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17.02.2009
Tansaniareise von Martin Bach
Im folgenden veröffentlichen wir das Reisetagebuch von Martin Bach. Ursprünglich als Business Trip geplant, hat sich seine Kilimandscharo Besteigung als eine einzigartige Natur- und Selbsterfahrung herausgestellt.
30.1 Mein Bericht beginnt am Flughafen Kilimandscharo, wo ich abends nach Sonnenuntergang mit KLM gelandet bin. Drei Personen holen mich ab: der Fahrer Lenad (Schreibweise korrekt), ein Official, der das Schild mit meinem Namen hochhalten muss und der Administrator, der die Kommunikation im Auto übernimmt. Er kommt schnell auf die örtlichen Regeln der Trinkgeldvergabe zu sprechen und fügt beiläufig hinzu, dass ich ihn nur noch heute sähe; morgen sei er nicht mehr da. Nachdem ich so tue, als verstünde ich nicht, ist er doch am nächsten Morgen wieder da und bekommt seine 2 $ Trinkgeld.
Die Fahrt vom Flughafen zum Hotel dauert ca. 50 min. Protea Aishi hat 3 Sterne und eine sehr schöne Außenanlage mit tollem Blick auf den Kilimandscharo. Eine exzellente Ausgangsposition für die Machame Route, aber auch für alle, die woanders aufhören und sich vom Kibo noch einmal aus der freundlichen Umgebung eines Swimming Pools verabschieden möchten.
31.1 Morgens kommt wieder der Fahrer vorbei und bringt Dismass, meinen zukünftigen Begleiter, mit. Für den Tag ist die Besichtigung mehrerer Hotels geplant. Dabei sehe ich nebenbei eine ganze Menge von der südlichen Umgebung des Kilimandscharo. Es wird schnell klar, dass Protea Aishi konkurrenzlos ist – trotz der Dusche, die nur zögernd warm wird und des Frühstücks, wo der Schinken ausgeht und der Kaffee transparent ist. Wir fahren nach Marangu, wo wir im Makara Hotel ein israelisches Ehepaar treffen, das dort über drei Monate ein Training mit dem Personal veranstaltet. Ein Erfolg ist die Tanzgruppe des Personals, die jeden Gast bzw. jede Gruppe vom Gipfel mit Tänzen und Liedern empfängt. Heute soll mir die Ehre zuteil werden. Zur Erheiterung aller fordert mich eine Alte zum Mittanzen auf. Am Ende der Darbietung ist natürlich wieder ein Trinkgeld fällig.
Die Rückfahrt geht über Moshi. Die Provinzhauptstadt am Kilimandscharo mit ca. 100.000 Einwohnern wirkt typisch afrikanisch und ist schachbrettförmig angelegt. An den breiten Straßen, sitzen die fliegenden Händler und erstaunlich viele Näherinnen. Einen Menschen, der halbnackt und halbtot auf der Straße liegt, darf ich nicht fotografieren. Überhaupt reagieren viele böse, wenn sie merken, dass sie fotografiert werden. Die traditionelle Angst, dass dabei die Seele verhext wird, ist nach meinem Gefühl weniger der Grund dafür, als der Wunsch, eine gute Entschädigung dabei aushandeln zu können. Im Unterschied zu ähnlichen Provinznestern im Zululand fällt mir auf, wie sauber Moshi ist. Kaum Müll liegt in den Straßen. Auch die Landstraße von Marangu nach Osten kann es mit jeder südafrikanischen Provinzstraße aufnehmen. Mir kommt der Gedanke, ob nicht doch Selbstfahrertouren durch Tansania möglich sind, was unsere Reisen erheblich günstiger machen würde. Im Dunkeln fahren wir nach Machame zurück, wo wir gemeinsam Abend essen (ok).
1.2 Heute beginnt die Wanderung, allerdings etwas verspätet. Die Dusche bleibt diesmal ganz kalt. Ich möchte noch eine der open-Air-Metzgereien von Machame fotografieren und entschließe mich zu einem kurzen Sonntagsspaziergang. Kaum dass ich das Bananenwäldchen durchschritten habe und im Dorf bin, umringen mich Kinder mit ausgestreckten Händen: „1 Dollar“ – ohne „please“. Später kommen die Händler und rufen: „10 Dollar“, sodass ich schnell wieder in den goldenen Käfig meines Hotels flüchte. Anschließend werde ich zum Machame Gate gebracht. Vor dem Tor herrscht Massenandrang: Guides, Touris, Taxis, Busse, Träger und Officials wuseln durch einander. Dismass meint, samstags und sonntags sei es immer so.
Leider sind unsere Träger noch nicht da und das Material, das sie tragen sollen, ebenfalls nicht. Erst heißt es, sie warten hinter einem stecken gebliebenen Taxi, dann haben sie offenbar die Entfernung von Arusha nach Machame falsch eingeschätzt. Als sie endlich kommen, werden die Utensilien zwischen zwei Guides aufgeteilt – bewundernswert, wie schnell sie die Eier, Klappstühle, Zeltstangen, Karton, Dosen, Gemüse, Kocher und vieles andere mehr verpacken. Nach wenigen Minuten stehen meine 15 Träger mit Sack und Pack vor der Waage an, um ihre Ladung wiegen zu lassen. Keiner darf mehr als 20 kg tragen. Nachdem ich mich ins Register eingetragen habe, geht’s gegen 12:30 endlich los: zunächst in den Urwald, der immer schöner wird. Nach einer Stunde fängt es an zu regnen, was der Stimmung keinen Abbruch tut – im Gegenteil. Schlinggewächse wuchern über den Weg, Moose hängen wie lange Moslembärte von den Bäumen herab. Im Nebel wirkt alles gespenstisch. Ich freue mich, als ich einen Gelbholzbaum erkenne und staune, dass Dismass auch botanische Kenntnisse hat. Leider vergesse ich die vielen lateinischen Namen immer in der Sekunde, da sie ausgesprochen werden. Später diktiert Dismass mir einige: camphor tree, Makaranga Kilimanjarica, hagiena abesinica.
Zum Lunch gibt es ein Paket mit Sandwichs und Huhn, das wir irgendwo am Wegrand einnehmen. Dabei laufen ständig die Träger an uns vorbei, die ich zunächst noch fotografiere., weil sie so abenteuerlich aussehen: Sie tragen meist einen Rucksack und auf dem Kopf noch eine Tasche oder einen Zeltsack, an dem rechts und links Wasserkanister befestigt sind. Nach mehreren Stunden lichtet sich der Wald, und abrupt stehen wir an der Grenze zur Heidelandschaft. In der Vegetationszone der Baumerika wächst die Senicie, die gelegentlich auf Gespensterbaum genannt wird und die Lobelie. An der Grenze zwischen Urwald und Heide liegt unser erstes Camp: das Machame Camp auf Zugspitzniveau. Das Drei Gänge Dinner essen wir – wie auch an allen folgenden Abenden – zu zweit im großen Esszelt. Während ich auf einem (unbequemen) Campingstuhl sitze, nimmt Dismass vorlieb mit einem Wasserfass. Unser Butler ist der Assistent Guide, der ansonsten die Träger und Köche beaufsichtigt und auf den schönen Namen „Dola“ (von Dollar) hört. Gegen 19:15 wird’s schnell dunkel und nach einem interessanten Gespräch über Kolonialzeit und Sklaverei gehe ich in den Schlafsack, wo ich nicht gut, aber ausreichend schlafe. Immerhin ist das Camp schon auf 2.900 m Höhe, und ich spüre noch nichts von der Veränderung.
2.2 Wake-up-Call pünktlich um 6:30 mit einer Tasse Tee im Zelt. Um 7:00 folgt eine Schüssel heißen Wassers, die Dola in den Zelteingang stellt. Nach längerem Überlegen finde ich eine Möglichkeit, mich ein bisschen zu waschen, ohne alles im Zelt nasszuspritzen. Die Porters waschen sich offenbar nicht, jedenfalls riechen sie genauso wie die ländlichen Zulus. Das ist mir ein Anreiz, wenigstens ein bisschen Wasser und Deo zu gebrauchen. Um 7:30 gibt’s wie an jedem weiteren Morgen Frühstück. Porridge (iiiiii), ein Omlett, Sandwiches, dazu Kaffee und ein Päckchen Marakujasaft aus Südafrika. Alle Mahlzeiten werden zu zweit und im Zelt gegessen, was wegen der schnellen Wetterumschwünge sinnvoll ist.
Diesmal ist der Anstieg steiler, dafür ist die Strecke nicht so lang. Gleich am Anfang komme ich aus dem Rhythmus, laufe hinter Dismass her, bzw. 50 cm hinter seinem Rucksack. Dabei werden wir ständig überholt. Es waren ja ca. 200 Bergsteiger im Camp, was auf mindestens 1000 Träger schließen lässt. Alle gehen jetzt gleichzeitig über die gleiche Strecke nach oben. Es ist ein ständiges Überholtwerden. Manche der Porter haben dröhnende Kassettenrekorder dabei, es gibt ein Mordskrakeel.
Nach einer sehr erleichternden Pinkelpause (es geht also doch trotz der vielen Menschen) tauschen wir. Ich gehe vorn und Dismass hinter mir. Jetzt finde ich meinen Rhythmus, und die vielen anderen machen mir nichts mehr so viel aus, weil ich erkenne, dass ich trotz der tausende um mich herum mit, mit meinem Schritt und meinem Atem ganz auf mich gestellt bin. Der Anstieg klappt jetzt prima. Es fängt wieder an zu regnen und so bin ich froh, dass das Lunch nicht im Freien serviert wird. Das Zelt ist von einer brutzelnden Gemüsesuppe angewärmt. Die Heidelandschaft sieht nicht weniger gespenstisch aus als der Regenwald zuvor. Man kann sich leicht verlaufen in dem riesigen Areal, wären da nicht die vielen anderen und die ausgetretenen Stiegen, die wegen des nassen Lehms z.T. sehr glitschig sind. Der Anstieg ist zwar körperlich viel schwerer als tags zuvor, aber technisch stellt er keine Anforderungen. Nach einer Stunde hellt es sich auf, und der Kilimanjaro zeigt sich in seiner weißen Pracht. Dazu der Shira Gipfel mit den schwarzen, zerklüfteten Shira-Needles. Kurz darauf kommen wir im Shira Camp (3900 m) an.
Als ich noch einige Schritte über das Camp hinausgehe, stelle ich fest, dass es ganz einfach ist, auch auf der Machame Route den Massen zu entkommen und Einsamkeit und Naturstille zu erleben. Bereits mehrere hundert Meter hinter dem Camp bin ich mutterseelenallein und erlebe die Urlandschaft aus kalten Nebeln und Totenstille sofort viel intensiver:. Sie nur erhaben, sondern furchteinflößend. Nur ein paar Raben hüpfen lautlos zwischen Gespensterbäumen, die aussehen wie böse Geister, und ein paar Mäuse huschen über den Weg, bevor sie in der mannshohen Heide verschwinden.
Im Shira Camp, das größer wirkt als das letzte, gibt es Wasser und Klos, letztere allerdings in desaströsem hygienischen Zustand. Das einzig Gute an Plumpsklos ist, dass manch sich nicht hinsetzen muss, sondern auf zwei angenagelten Klötzen hockt und zielen muss. So ähnlich gings früher bei in der italienischen Eisenbahn zu. Das Abendessen um 18:30 ist gesund, aber einfach. Was will man auch erwarten unter diesen Umständen. Nach dem Abendessen ist mir plötzlich eiskalt. Es muss um die 0 Grad sein und ich flüchte gegen 20:00 in meinen Schlafsack. Neben mir zeltet ein frisch verliebtes kanadisches Pärchen. Sie hat eine sehr hohe, affektierte Stimme und scheint zu glauben, die Zeltwände seinen schalldicht. „What are you doing“, fragt sie in schrillem Diskant. Na was wohl….
3.2 Habe schon besser geschlafen. Dafür heute ein herrlicher Morgen: Die Shira Needles liegen frei und ebenso der Kibo. Frühstück ist trotzdem wieder im Zelt. Ich habe keinen Hunger. Dismass meint, ich muss mich zwingen. Wieder Porridge und ein in Ei gewendeter Toast, dazu Marmelade.
Der Weg führt aus der Heidelandschaft in die alpine Wüste, und auch die wird wieder unheimlich, als es zu hageln beginnt. Der Kili und der Shira verbergen sich, ebenso der Mount Meru, den wir morgens noch etwa 80 km weiter westlich gesehen haben. Schnell ist die 4000 m Marke überschritten, aber ich gehe einfach weiter, Schritt für Schritt in Zeitlupe. Dafür atme ich, als würde ich im Fittness Studio eine dieser Fettverbrennungsmaschinen treten. Ich müsste nicht so schnell atmen, aber Dismass meint, durch die Versorgung des Gehirns mit ausreichend Sauerstoff könnte man Kopfschmerzen vermeiden. Auf 4.400 m erwartet mich das Lunchzelt. Auch diesmal essen wir drin, wo wir vor dem wieder beginnenden Hagel geschützt sind. Doch im Zelt verstopft meine Nase und ich bekomme nur noch schwer Luft. Das ist hinderlich, und ich habe das Gefühl, dass der Gasbrenner mir das bisschen Sauerstoff zum Atmen nimmt. Es ist aber zu überstehen; appetitlos verzehre ich die Suppe, Hähnchenschenkel und Sandwiches, dazu ein bisschen Obst.
Nach dem Lunch kommt die erste Herausforderung der Tour: es geht auf über 4.600 m an den gewaltigen Lava Towers vorbei. Da erlebe ich zum ersten Mal einen leichten Anflug von Kopfschmerz. Dismass meint, ich ginge zu schnell und tränke zu wenig. Außerdem müsse ich tiefer atmen. Ich versuche es, aber das geht nicht so schnell wie mein flacher Atem. Ich experimentiere mit meinem Rhythmus: ¾ Takt, ¼ einatmen, 2/4 ausatmen, danach 4/4 Takt, aber nichts ist optimal. Die Kopfschmerzen werden stärker, obwohl wir jetzt wieder bergab gehen. Außerdem regnet es beständig und mir ist zu warm. Im Barranco Camp angekommen, das traumhaft oberhalb des gleichnamigen Tals liegt, reißt die Wolke ein wenig auf und turmhoch über uns offenbart sich drohend der Kibo. Zum ersten Mal denke ich, dass ich es vielleicht nicht schaffe.
Abends kann ich nichts essen und fühle mich schlapp. Das Gespräch mit Dismass ist sehr aufbauend und ich schlafe gut. Um 1:00 nachts muss ich raus. Über mir leuchtet ein sensationeller Sternenhimmel, ich werfe aber nur einen ganz kurzen Blick auf das Kreuz des Südens, das über dem Horizont phänomenal wirkt. Es ist dermaßen eisig, dass ich schnellstens wieder in meinem finnischen Schlafsack verschwinde.
4.2 Der Tag beginnt später als sonst, weil das Camp morgens im Schatten liegt und alles tief gefroren ist. Bei -11 Grad ist kein wirklicher Gedanke an Waschen; alle laufen mit Pullovern, Anoracks und dicken Wollmützen herum. Ich lerne, den Verbrecherstrumpf zu schätzen, mit dem man auf verschiedene Weise sein Haupt verhüllen kann. Heute ziehe die Skiunterwäsche an. Damit kann mans gerade aushalten. Zum Frühstück habe ich wieder ein bisschen Appetit. Gabi hat ein sms geschickt. Sie macht sich Sorgen, das ist tröstlich. Die heutige Tour ist kürzer – und das ist auch gut so.
Am Anfang steht eine abenteuerliche Kraxelei über einen Fels. Das Klettern ist eigentlich nicht schwer. Was es abenteuerlich macht, sind die Träger, die mit gewaltigen Zeltsäcken auf dem Kopf ständig überholen. Ich wundere mich, dass kaum jemandem mal etwas runterfällt. Dafür gibt es Staus im Fels, und man muss aufpassen, niemanden auf die Finger zu treten. Schließlich stehen wir auf dem Umbwe.Köpfli (4.200 m), einem Aussichtsplateau mit Blick über den Regenwald, die Heide und im Hinterland die endlose afrikanische Ebene mit dem Mount Meru als Landmark. Dismass fordert mich auf, mehr zu trinken. Ich entgegne, dass ich schon einen Liter sein heute getrunken habe, aber er meint, mein Urin sein noch zu gelb. Mir wird klar, dass er mich ständig beobachtet. Am Anfang habe ich alle meine Bergutensilien vor ihm ausbreiten müssen. Er hat kritisch meinen Schlafsack befühlt und das Fehlen eine regendichte Überzugshose bemängelt. Wenn er hinter mir geht, achtet er auf meinen Atem. Er registriert genau, was ich esse und wieviel. Auch wenn der Übergriff in die vermeintliche Privatsphäre zunächst befremdlich wirkt: vermutlich macht gerade das den guten Guide aus. Unterwegs kommen wir an einer Gruppe vorbei, deren Führer einen Walkman im Ohr hat. Was für ein Gegensatz…
Die Strecke zum Karanga-Camp führt wieder bergab und um ersten Mal gehe ich richtig zügig, ohne außer Atem zu kommen. Zum Lunch sind wir im Camp und ich habe Riesenhunger. Es trifft sich, dass vor dem martialischen Gipfelsturm übermorgen zwei Etappen liegen, die nicht so anstrengend sind, so dass der Körper ein wenig Sauerstoff für die Verdauung und die Regeneration abzweigen kann.
Der Reiz dieser extremen Tour besteht für in der Reduktion aufs wesentliche. Ich freue mich über Luft und Atem, und wenn ich davon genug habe, dass ich einen klaren Kopf behalte. Ich freue mich über Wasser, dass ich ständig trinke. Kein Gedanke an Bier oder Wein… Ich freue mich über Wärme, die auf einmal viel wichtiger ist als die schönste Aussicht oder der gewaltigste Sternenhimmel. Sogar über den Hunger freue ich mich, weil er zeigt, dass sich mein Körper regeneriert und lebt – und natürlich über Rast, die mit keiner Aktivität gefüllt ist und doch nie langweilig ist.
5.2 ein grandioser Morgen mit strahlendem Sonnenschein und überwältigendem Fernblick. Wo gibt es das noch mal auf der Welt. Das bisschen Wasser in der handtellergroßen Schüssel hat diesmal für eine Ganzkörperwaschung gereicht. Ich bin stolz auf mich. Gut gefrühstückt, viel getrunken. Ich schaffe es. Nach dem buchstäblich atemberaubenden Besuch des Plumpsklos, das offenbar von vielen im Zielen ungeübten Bergsteigern und Trägern heimgesucht wurde, fülle ich meine Wasserflasche um. Im selben Moment fallen mir die Abermillionen Bakterien und Krankheitserreger ein, die vielleicht noch an meinen Fingern kleben. Nicht, dass die Gipfelbesteigung an so einem „Scheiß“ scheitert. Ich kippe das kostbare, über tausende Höhemeter hergeschleppte Trinkwasser fort.
Der Weg ist kurz und nicht anstrengend. Erst als wir wieder über 4.600 m steigen, spüre ich einen leichten Druck. Am Barafu Camp angekommen, sind die Träger wie immer schon da und bauen mein Dinner-Zelt auf. Bewundernswert, wie sie erst ihre Last nach ober schleppen, und zwar in einem viel schnelleren Tempo, um dann alles aufzubauen, bevor der Umzungu (der Weiße) erscheint. Als ich oben ankomme, holt einer schnell meinen Stuhl herbei, und ich genieße die Entspannung schamlos, während das Team mit kochen und aufbauen beschäftigt ist.
Ein Porter verdient am Tag offiziell 8 US$, in Wirklichkeit liegt der Lohn meist darunter. Einige haben Familie, und ihr Einkommen ist, wie bei allen Tagelöhnern an allen Orten und zu allen Zeiten unregelmäßig. Köche und der Assistent Guide bekommen 10 $, und der Hauptführer normalerweise 20 $. In meinem Fall hat er aber von Akorn weniger als 1800 $ erhalten und musste damit den ganzen Einkauf, die Parkgebühren von 750 $ und alle Löhne auszahlen. So scheint die Besteigung für uns Kunden teuer, selbst im europäischen Vergleich. Was aber beim Porter ankommt, ist weniger als ein Hungerlohn. Angesichts der hohen Parkgebühren fragen wir uns, wie hoch die Einnahmen der Parks sind. Bei 45.000 Besuchern jährlich betragen sie 32.700.000 $. Dafür erhält die Parks Board die Wege und stellt die wunderbaren Toilettenhäuser bereit. Was für ein Geschäft! Wo bleibt eigentlich der tansanische Rechnungshof? Was geschieht mit den restlichen 32.000.000 $ Dollar?
Im Camp machen alle einen schrecklich fitten Eindruck. Die Amis quatschen ohne Ende mit künstlich hohem Stimmansatz, zwei Norwegerinnen hüpfen an mir vorbei wie Bergziegen. Als ich sie darauf anspreche, sagen sie nur: Diamox. Das ist ein Mittel gegen die Höhenkrankheit, das fast alle hier oben einnehmen, auf jeden Fall die Angelsachsen. Unter den Deutschen ist es eher verpönt, meint Dismass. „The Alpenverein prefers a clean climb without drugs. “
Heute ist ein frühes Dinner geplant – gegen 17:00. Danach geht’s ins Bett, bereits in den Klamotten die morgen gebraucht werden. Wecken für den Aufstieg ist gegen 23:00.
6.2 Miserabel geschlafen. Wegen der Höhenluft habe ich eine betonierte Nase. Nach dem Frühstück – schon wieder Porridge!! – Abmarsch gegen Mitternacht. Vom Barafu-Camp, das auf 4.600 m liegt, geht es ständig bergauf. Ich bin extrem warm angezogen. Über der Unterhose schmiegen sich zwei Thermo-Leggings an meine Beine, darüber die Wanderhose. Weiter oben wärmen mich ein Unterhemd, zwei Skiunterhemden, ein dickes Flanellhemd, zwei Pullover und eine wassserdichte Jacke. Darüber verhüllen eine Wollmütze und der Verbrecherstrumpf meinen Kopf bis auf Mund und Nase. Dies alles auf Geheiß von Dismass. Ich selbst hätte diese Verpackung für absurd gehalten. Zur Ausrüstung am Gipfeltag gehören ferner die Stirnlampe, 3 Liter Wasser und die Lebkuchen von vorletztem Weihnachten, die uns Oma geschickt hat, weil sie sie nicht mehr essen will.
Der Anstieg geht ohne Kletterei, nur an zwei Stellen nehmen wir die Hände zu Hilfe. Dafür steigen wir über Sand, Schutt und Asche und rutschen ständig zurück. Das ist eine Anstrengung, die mir den Atem verschlägt. Die etwas ebenere Strecke oberhalb gehe ich betont langsam. Dismass meint jetzt, ich solle schneller gehen, weil ich sonst erfriere. Aber noch ist mir zu warm, was mit der Übelkeit und meiner Angst vor Kopfschmerzen zusammenhängt. Ich bemühe mich, schneller zu gehen und tief zu atmen. Da durch die Nase nichts mehr geht, muss ich durch den Mund atmen. Das ist sehr unangenehm, da so die 11 Grad kalte Luft direkt in die ungeschützte Lunge pfeift. Ich ziehe den Strickstrumpf vor den Mund, um die Luft vorzuwärmen, aber jetzt bekomme ich nicht mehr genug Sauerstoff. Inzwischen sind wir auf gleicher Höhe mit dem gezackten Mawenzi im Osten, dem zerklüfteten kleinen Bruder des Kibo.
Der Sternenhimmel ist phantastisch, vor allem nachdem der Mond untergegangen ist. Alle Sternzeichen säuberlich in einer Linie aufgereiht. Die Sterne sind hier keine Punkte, sondern dicke Orangen. Hoch oben deprimiert mich künstliches Licht aus Stirnlampen, weil es anzeigt, dass wir noch mindestens ebenso hoch müssen. Ich nehme mir vor nicht mehr hoch zu gucken, sondern mich auf meinen Rhythmus zu konzentrieren. Atmen ist das wichtigste: gleichmäßig und tief. Am ersten Tag der Reise hat mir eine Engländerin gesagt: You must bei determined. Ich bezweifle das. Ich muss vielmehr meinen Rhythmus finden und in der Lage sein, ihn 10 Stunden durchzuhalten. So schnaufe ich weiter und nehme nichts wahr als die eiskalte Luft in meinen Lungen. Selbst wenn ich unterbreche, um zu trinken, muss ich nach zwei Schluck keuchend Atem holen. Nicht atmen wird auf der Stelle mit rasendem Kopfschmerz bestraft.
Plötzlich sind wir an Stella’s Point. Wie? Schon da? Offenbar war ich so ins Stapfen und Atmen vertieft, dass ich das Ziel vergessen hatte. Eine angenehme Überraschung. Jetzt ist es nur noch ein leicht ansteigender Weg von 40 Minuten zum Gipfel. Zu sehen ist nichts. Die Nacht ist noch rabenschwarz und die Stirnlampen leuchten nur die unmittelbare Umgebung aus. Es ist eiskalt auf dem Kraterrand und ich friere erbärmlich trotz all meiner Kleidung. Aber da der Körper Sauerstoff benötigt, um Wärme zu erzeugen, ist das kein Wunder in fast 6000 m Höhe. Hinter uns jetzt ein zartroter Streifen am Horizont. Die Dämmerung am Äquator verläuft im Zeitraffer. Bald ist der ganze Horizont um den einsamen Bergriesen in glutrotes Licht getaucht.
Ich mache eine faszinierende Entdeckung: der Horizont ist gekrümmt. Man sieht vom Kilimandscharo, dass die Erde rund ist! Das ist einmalig. Das gibt es nicht einmal auf dem Mount Everest. Die Dämmerung erhellt zusehends auch die nähere Umgebung – was für eine Urlandschaft aus schwarzen Kratern, unförmigen Lavabomben, rosa Gletschern, turmhohen und kilometerlangen Eiswänden, von denen ein eisiger Hauch ausgeht... Schließlich erhebt sich die Sonne triumphierend über dem Mawenzi: die Himmel ist ein unbeschreibliches Farbenspiel aus Rottönen in allen Schatlierungen. Die Jahrtausende alte Asche im Kraterloch ist schwarz und grau. Eingegrenzt wird der Gipfel von Wänden aus grauem Eis, das aber in der Morgensonne mit einem hellrosa Schein überzogen ist. Leider reicht die Zeit nur für ein paar Fotos, die bestimmt alle schlecht sind und nicht einmal im Ansatz dem Naturschauspiel gerecht werden. Als wichtigstes natürlich das Gipfelfoto von mir und ein paar Schnappschüsse auf Aschenkrater und Eiswände. Gutes Fotografieren mit Handschuhen, benommenem Kopf und knapper Luft ist kaum möglich.
Ja wirklich. Mein Kopf ist benommen. Habe ich vor lauter Entzücken das Atemholen vergessen? Jedenfalls bemerke ich bei mir eine Art Trance, die mich alles wie im Traum erleben lässt. Meine Eindrücke sind nicht mehr klar umrissen wie sonst im Wachzustand. Alles ist ungefähr und nicht so wichtig. Ich merke, wie ich kaum noch fähig bin, Entscheidungen zu treffen. Ich habe das Gefühl, im Wachen zu träumen und ihm Gehen zu schlafen. Auf dem Weg nach unten weicht dieser unheimliche, aber nicht unangenehme Zustand der Erschöpfung. Sind es wirklich noch zwei Stunden bis Barafu? Irgendwie dachte ich, es müsste kürzer sein, 10 Minuten oder so... Jetzt, wo ich alles aufschreibe, weiß ich dass das natürlich Unsinn ist.
Im Camp kann ich nichts essen und bin kein bisschen enthusiastisch. Eher verwirrt. Ich lege mich in mein Zelt, das freundlicherweise noch steht. Leider teile ich es jetzt mit zwei Ratten, die immerzu und unbehelligt durchs Lager laufen. Da der Reißverschluss zur Zeltöffnung sich 20 cm über dem Boden befindet, können die Ratten nicht raus. Wir beginnen eine Verfolgungsjagd um meinen Schlafsack. Schließlich baue ich aus der Isomatte eine Brücke in die Freiheit zur beiderseitigen Erleichterung. Mir fällt auf, wie dreckig das Lager ist. Jeder pinkelt neben sein Zelt, es gibt keine Mülleimer und kein Wasser. Alles Wasser muss von Karangu hochgeschleppt werden. Für unsere Gruppe waren es 60 Liter.
Der Tag ist aber noch nicht zuende. Im Gegenteil: es ist erst 11:00 Uhr. Wir gehen weiter herunter zum Mweka Camp. Dabei durchqueren wir gleich zwei Klimazonen: die Hochwüste und die Heide, die hier besonders prächtig ist. Das Mweka Camp, wo wir übernachten, liegt schon an der Regenwald-Grenze und fühlt sich an, als wäre es bereits im Flachland. Dabei liegt es mit 3.100 m noch höher als der höchste deutsche Berg. Es ist warm und grün dort, schon fast tropisch. Im Camp gibt es dann eine Dankesrede meinerseits an die Träger und die feierliche Überreichung des Trinkgelds an Dismass, der es aufteilen soll. Wieder das symptomatische Problem: 400 € Trinkgeld ist mehr, als ich je annähernd irgendwo sonst bezahlt hätte. Aber es muss ja unter 19 Personen aufgeteilt werden, und dann bleiben nur 15 $ pro Träger und ein bisschen mehr für die Köche und Dollar. Ich bekomme Applaus für meine Rede, aber ich weiß nicht, ob ich die richtigen Worte gefunden habe. Ich habe gesagt, dass der Beruf des Trägers auf Dauer nicht gut für sie sei und dass sie noch etwas lernen sollen, um z.B. so etwas zu werden wir Dismass.
Ich gehe früh ins Bett. Der Tag war mörderisch lang und die Nacht davor habe ich kaum geschlafen. Morgen solls um 5:00 losgehen. Zu den Klängen von Beethoven c-moll Klavierkonzert schlafe ich ein.
7.6 Am nächsten Morgen wieder Wecken mit Kaffee – auch diesmal in der Dunkelheit. Es ist eine koloniale Geste, den Kaffee ans Bett gebracht zu bekommen. Andrerseits würde ich DIESEN Kaffee in Europa nicht trinken… Eine halbe Stunde später beim Frühstück wundert sich Dollar, dass ich kein Porridge und keine Würste mehr will. Nein, nein, sechsmal Porridge und Würste: das reicht!
Nach dem Frühstück rennen wir durch den Regenwald hinab, in dem wieder die Moose und Schlinggewächse wuchern. Sie brauchen keinen Bodenkontakt, sondern beziehen die nötige Feuchtigkeit aus dem Nebel. Als wir zum Fahrweg kommen, steht dort die Bahre, auf der gestern ein Höhenkranker aus Barafu abgefahren wurde. Er hatte wohl unter dem Gipfel nur noch Unzusammenhängendes gelallt und konnte die einfachsten Fragen nicht mehr beantworten. Wir hatten unterwegs gesehen, wie die Ranger ihn nach unter gefahren hatten. Die Bahre war im Eigenbau aus einem Bett und einem Fahrrad zusammengeschweißt. An jeder Seite gehen zwei Träger. Unter der Bahre befindet sich barmherzigerweise ein Stoßdämpfer. Die Ranger rumpelten nämlich mit dem Gefährt und dem armen Kranken rücksichtslos über Stock und Stein. Offenbar schadet es ihrer Meinung nach nichts, wenn zur Höhenkrankheit noch eine Gehirnerschütterung hinzukommt.
Nach nur 2 ½ Stunden Wanderung sind wir schon am Mweka Gate, als die ersten an diesem Tag. Nachdem ich mich feierlich ins Besucherbuch eingetragen habe, mit Alter und höchstem Punkt, folge ich den Schildern „Toilets“. Zwar ist der Deckel ab, so dass man auf der Porzellanschüssel sitzen muss, aber es ist das erste WC nach 8 Tagen, ein paradiesisches Örtchen. Über dem Waschbecken hängt ein leicht korrodierter Spiegel, aber es ist das erste Mal seit acht Tagen, dass ich mir wieder ins Gesicht sehe. Etwas fremd kommt es mir vor, versengt an den Stellen, die mein Hut nicht abdeckt, und ein grauer 7- Tage-Bart. Als ob ich nicht nur ein sondern gleich mehrere Jahre gealtert wäre…
Der Fahrer von Akorn ist da und bringt uns zum Flughafen. Es geht plötzlich alles so schnell. Wir fahren durch die grüne, anmutige Landschaft von Bananenhainen, afrikanischen Dörfern und Kaffeplantagen bergab. Als wir an einer Bafana-Bafana-Bar vorbeikommen, fällt mir auf, wie sehr ich mich in Afrika – Gesamtafrika – zuhause fühle. In der Kia Lodge am Flughafen treffe ich dann zu allem Überfluss noch auf vier weiße Farmer aus Zimbabwe, die offenbar nach Tansania auswandern wollen. Ich habe sie sofort an ihrem afrikaaansen Akzent erkannt, auch an ihrem ungeduldigen Benehmen der schwarzen Bedienung gegenüber. Wie sich rausstellt, war einer von ihnen auf einer Schule in Südafrika. „A German School near Pietermaritzburg“. Wie klein doch die Welt ist, bzw. die Welt der Weißen im Subsahara-Afrika.
Die Lodge liegt in der heißen Ebene und ist nix besonderes, panafrikanisch mit Curio Shop und Airport Art, dazu eine Bar unter Strohdach und ein Swimming Pool. Aber die Gerüche in der Mittagshitze sind wie im Zululand. Selbst die Weihnachtsgrillen machen denselben ohrenbetäubenden Lärm wie in Südafrika. Und noch etwas erinnert mich an unsere Zeit in Südafrika: Der obligatorische, tägliche Stromausfall in der Lodge.
Zum Mittagessen bin ich mit Robert von Akorn verabredet, der für die Kilimandscharo-Buchungen zuständig ist. Er kommt in Begleitung des wesentlich gesprächigeren Claude, der mir wortreich, aber auch überzeugend erklärt, warum das Buchen über Akorn so teuer sein muss. Danach geht das Gespräch ins private über. Claude ist coloured. Seine Mutter ist Kongolesin, der Vater Belgier. Sie lebt jetzt in Portugal mit ihrem neuen Mann zusammen. Der Vater ist auf Madagaskar gestorben. Claudes Heimat sei nun Tansania, obwohl ihn die Verwandten seiner Frau für einen Umzungu, einen Weißen, halten. Dabei ist er nicht dunkler als Obama, der immer als Schwarzer bezeichnet wird. Der Kongo sei immer noch seine zweite Heimat, aber die Unterschiede zwischen beiden Ländern könnten nicht größer sein. Sein bester Freund im Kivu hätte bereits 6 Kinder. Die Mutter und eine Tochter seien an Malaria erkrankt. Zum Arzt gingen sie nicht, warum auch, „God provides“, und außerdem gibt’s gar keinen Arzt. Selbst wenn es einen gäbe, wäre er zu teuer. Er dagegen hätte nur eine wunderschöne Tochter, was für seine Generation in Tansania normal sei. Zum Beweis führt er Robert an, der schweigend und etwas verlegen am Tisch sitzt. Der sei schon fast 30 und immer noch nicht verheiratet. Robert verteidigt sich: erst müsse er ja mal ein Haus bauen, und das wäre verdammt teuer. Ich frage mich, ob ich noch in Afrika bin oder schon in Schwaben: Raffe schaffe Häusle baue und net nach de Mädle schaue…
Vor mir liegt eine Bibel in deutsch, englisch und französisch, wie sie die Gideon Bruderschaft weltweit in Hotels auslegt. Leider nur das Neue Testament. Sonst hätte ich die Geschichte von Elia nachgelesen. Nach mehreren katastrophalen Misserfolgen trachtet ihm nun noch König Ahab nach dem Leben. Da flieht der Prophet zum Berg Horeb und bleibt dort 40 Tage. Raben kommen und bringen ihm Essen am Berg. Gott lässt aus einem Fels Wasser quellen. Unwetter und Donnergrollen gehen über ihn hinweg. Aber er wartet auf etwas anderes: auf den Herrn, der tatsächlich in einem Windhauch erscheint und ihm zwei oder drei gewichtige Aufträge erteilt. Da geht Elia vom Horeb hinab. Aber er ist verwandelt: statt Verzeiflung und Ratlosigkeit nun kraftvolle Entschlossenheit.
Auch ich kehre wieder heim – gleich mit dem Nachtflug von KLM. Ich freue mich auf deinen Brunch am Sonntag mit meiner Familie, auf meinen aufgeräumten, großen Schreibtisch, auf die vor mir liegenden Herausforderungen, auf Spontan-Nachhilfe nach dem Motto: übrigens wir schreiben morgen ne Mathearbeit, kannst du mir noch mal kurz…, auf die neuesten Gemälde von Philemon und auf die Kolleginnen und Kollegen.