Spanische Kleinstadt: Borja
Spanische Kleinstadt: Borja
Frankreich & Spanien

Das Wunder von Borja
Kunst-Katastrophe mit Happy End

Wahre Wunder passieren im Hier und Jetzt. Zum Beispiel in Borja, einer 5000-Seelen-Gemeinde im nordspanischen Aragonien. Dort geht die 83-jährige Rentnerin, Cecilia Giménez, hinauf zur Kirche. Mehr als zehntausend Mal ist sie den Weg schon gegangen. Hier wurde sie getauft, hier hat sie geheiratet. Hier wurden ihre Söhne getauft. Als der erste mit zwanzig an Muskelschwund starb, wurde er hier beerdigt. Ein Jahr später starb ihr Mann und ließ sie zurück mit dem zweiten Sohn, José Antonio. Noch heute schiebt sie den Rollstuhl des geistig behinderten Jungen durch die Gassen von Borja.

Dass sie an ihrem Schicksal nicht zerbrochen ist, verdankt sie auch der Kirche, dem Gebet, der Messe und den Kerzen, der Jungfrau Maria und dem Rosenkranz. Die Einsiedlerkirche bei Borja, Santuario de Misericordia, wurde ihr zweites Zuhause. Gleich am Eingang muss Cecilia Giménez an einem Bild vorbei. Es zeigt den Heiland mit Dornenkrone. Sein Blick ist gen Himmel gerichtet. Von dort erhofft er sich Erlösung. Der Schmerzensmann spiegelt ihr eigenes Leben und ihre Hoffnung. Und er ist – wie sie – gealtert. Seine Farbe verblasst und bröckelt. Vom linken Ohr ist schon fast nichts mehr übrig.

Der Anblick schmerzt sie. Und weil sie schon in der Schule gern gemalt hat, reift in ihr ein Entschluss. Sie wird Jesus retten – mit Pinsel und Farbe.

Doch es passiert ein Unglück. Sie ist gewohnt, auf einer Leinwand oder Papier zu malen. Mit feuchten Kirchenwänden hat sie keine Erfahrung. Die Farbe verläuft und schmiert, die Konturen verwischen. Aus der Dornenkrone werden Stoppeln. Zum Schluss hat sie aus dem Heiland ein igelähnliches Wesen gemacht. Sie bricht ab und will weitermachen, wenn die Farbe getrocknet ist.

Einige Tage später wird die Schmiererei entdeckt. Der Bürgermeister weiß nicht, ob er lachen oder weinen soll. Dazu muss man wissen, dass das Bild kein ganz unbekanntes war. Es stammt von Elías García Martínez, einem konservativen Maler, der vor über 80 Jahren gestorben ist und es in der Region zu einer gewissen Berühmtheit gebracht hat. Der Bürgermeister übergibt die Angelegenheit dem Kulturbeauftragten. Der stellt zwei Fotos ins Netz – Jesus vorher und nachher – und schreibt auf der Homepage der Gemeinde: „Wir sind entsetzt. Wir wissen nicht, wer es war und wie das passieren konnte. Wir überlegen, rechtliche Schritte einzuleiten.“

In den Kommentaren unter seinem Eintrag heißt es: „Eine Schande.“ „Ein Verbrechen.“ „Wie Mr. Bean im Sketch mit dem Ölbild.“ Als die Enkelin des Malers von der Verschandelung erfährt, erwägt sie Anzeige gegen Unbekannt.

Wenige Tage später will Cecilia wieder in die Kirche. Sie war ja noch nicht fertig mit dem Bild. Schon von weitem wundert sie sich über die Reporter und die Fernsehkameras. Ihre Schwester empfängt sie mit den Worten: „Ich glaube, du hast etwas schlimmes gemacht. Vielleicht musst du ins Gefängnis.“ Es beginnen die schlimmsten Wochen ihres Lebens. Im Dorf wird sie geschnitten. Im Fernsehen debattieren Experten, ob das Bild noch zu restaurieren sei. Und im Netz tobt ein Shitstorm.

Doch dann wendet sich das Blatt. Es beginnt in den sozialen Netzwerken. Die ersten User finden den „Igel-Jesus“ „süß“. Auf Youtube erscheinen Videos und auf Facebook die ersten Likes. Schließlich kommen auch echte Menschen nach Borja. Das Dorf, das von Arbeitslosigkeit und Abwanderung geprägt ist, zählt täglich neue Besucher, die in die Kirche strömen. Über 200.000 waren inzwischen dort. Der Igel-Jesus ist ein Besuchermagnet. Die Kirche verlangt jetzt einen Euro Eintritt. Der Erlös geht an das örtliche Altenheim.

Die Enkelin des Malers beabsichtigt übrigens keine Klage mehr. Ihr Großvater sei schließlich erst durch die „Restauration“ seines Gemäldes wirklich berühmt geworden. Er hat jetzt sogar einen Wikipedia-Artikel – in neun Sprachen, darunter auch Deutsch und Japanisch.

Veröffentlicht am Samstag, 19. Dezember 2015