
Wer auf der E75, der südöstlichsten Autobahn Europas, nach Westen fährt, sieht zur Linken das Ida-Gebirge. Dort, in einer Höhle am schneebedeckten Psiloritis, ist Zeus geboren. Und wer mit aufmerksamen Sinnen durch Kreta reist, stößt auf uralte Mythen und ein verloren geglaubtes Europa.
Wir sind auf der Suche nach dem Tal der Mühlen. Irgendwo hatte ich gelesen, dass es oberhalb von Rethymno einen Wanderweg gäbe, der auf ehemaligen Maultierpfaden durch ein romantisches Tal führt. Endlich finden wir den Einstieg. Wir lassen das Auto an der einsamen Bergstraße stehen und steigen hinunter zum Bach. Bald sind wir umgeben von einem duftenden Meer zahlloser Blüten. Der kretische Frühling entfaltet eine überwältigende Pracht, die alle Sinne betört. Die Luft ist erfüllt vom Summen der Bienen.

An der Kapelle der fünf Heiligen Jungfrauen kommen wir zum Mühlenbach. Die Kapelle ist in eine Felsgrotte hineingebaut. Nur die Fassade ist gemauert. Im Halbdunkel machen wir Kerzen, Ikonen und Weihrauchgefäße aus. Kommt hier noch manchmal jemand hin, um nach dem Rechten zu sehen? Auf unserem weiteren Weg stellen wir fest, dass das Tal einmal dicht besiedelt gewesen sein muss. Wir finden Reste von mindestens einem Dutzend Mühlen. Dazwischen halb verfallene Wassergräben und Aquädukte. Hier wurde über Jahrhunderte das Mehl für die Bewohner von Rethymno gemahlen. Viele Menschen müssen hier einst gelebt und geschuftet haben, mit allem was dazugehört: Esel und Schweine, Hühner und Ziegen. Heute ist alles verlassen und still. Die Natur erobert sich ihr Tal zurück. Wir gehen durch einen Urwald aus Feigen- und Granatapfelbäumen. Verwilderte Orangen- und Maronenbäume wachsen aus Trockenmauern, auf denen sich Eidechsen sonnen. Wir denken an Europa, in die sich Zeus verliebte. Zum Stier hat er sich verwandelt, um die Schöne zu rauben und sie von Kleinasien nach Kreta zu bringen. Und wir denken an unser Europa. Was hat dieses hochkomplizierte Staatengebilde nur mit dem alten Mythos zu tun?

Am Ende des Tals mehren sich Zeichen menschlichen Lebens. Wir entdecken Barbiepuppen und Heiligenfiguren, die zu grotesken Gruppen zusammengestellt sind. Liebevoll gebastelte Miniaturflugzeuge hängen an Fäden von Bäumen herab. Es riecht nach Holzfeuer. Zwei Stühle stehen um einen Tisch, der vollgepackt ist mit Tellern, Messern und allerhand Geräten. Auf einem sitzt ein bärtiger Mann vor einem Pott Kaffee. Wir kommen ins Gespräch. Eigentlich stamme er aus Neuseeland, aber seit über 20 Jahren wohne er hier. Er weist um sich her. Wir begreifen nur langsam: was wir sehen, ist tatsächlich sein Zuhause. Er lebt mehr oder weniger draußen. Sein Herd, auf dem er Schnecken und Kaffee kocht, raucht unter freiem Himmel. Seine Waschstelle besteht aus dem Ende eines Wasserschlauchs. Nur sein Bett steht in der Grotte, die er notdürftig zugemauert hat. Er brauche nicht viel, meint er. Manchmal verkaufe er seine kleinen Kunstwerke an Wanderer. Das reicht.

Kreta – das ist die Insel der Eremiten, denke ich. Seitdem der Apostel Paulus die Insel besuchte. Als die Türken kamen und den Islam einführten, zogen sich die einsamen Gottesmänner ins unzugängliche Innere zurück und behausten die zahllosen Höhlen der abgelegenen Schluchten. Und offenbar tun sie es bis heute. Wie unser neuseeländischer Diogenes in der Tonne. Das Europa, das ich kenne, scheint Lichtjahre entfernt. Und doch ist es auf geheimnisvolle Weise nahe. Vielleicht, denke ich, ist Europa noch viel mehr, als wir das in seiner ach so zivilisierten Mitte verstehen. So schlecht scheint es um Europa auf Kreta jedenfalls nicht bestellt zu sein. Bei der Abreise aus dem Hotel erhalte ich unaufgefordert eine Rechnung. Als ich mich darüber wundere – bin ich nicht in Griechenland, dem Paradies der Steuerhinterzieher, wo alles am liebsten ohne Rechnung geht? – meint die Dame an der Rezeption, dass sie seit einem halben Jahr immer Rechnungen ausstellen. Und auch die anderen Hotels und Restaurants wären dazu übergegangen. Nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: “ Das ist auch gut so. So konnte es ja nicht weitergehen.“
Unser Übernachtungstipp: Ein Landhotel bei Rethymnon
Genaugenommen ist man hier nicht zu Gast in einem Hotel, sondern gleich im ganzen Dorf. Die Geschichte geht zurück bis ins 17. Jahrhundert: alles nahm seinen Anfang mit der Olivenpresse, die damals zum Arkadi Kloster gehörte. Erbaut im größten Olivenhain von ganz Kreta steht sie heute unter Denkmalschutz. 17 der Original-Gebäude im Dorf wurden liebevoll restauriert und in elegante, komfortable Gästehäuser umfunktioniert: jedes individuell in seinem Design, die meisten mit eigenem Kamin und privater Terrasse. Das Restaurant bietet Frühstück, eine kleine Mittagskarte und am Abend ein à la carte-Menü mit kretischen Spezialitäten. Trotz der ruhigen Umgebung sind es nur 18 Kilometer bis ins lebendige Rethymnon mit seinem historischen Stadtkern.
