Marokko

Eine Besteigung des Jbel Toubkal von Martin Bach
Wo der Dämon tanzt

Die alten Griechen hielten ihn für den höchsten Berg der Welt. Ganz oben stand Atlas, der Titan, das Himmelsgewölbe auf seinen Schultern tragend.

Offenbar kommt man auf dem Jbel Toubkal dem Himmel ganz nah.

Und darum stand er schon lang auf meiner To-Do-Liste. Zwar ist er nicht der höchste Berge der Welt, aber immerhin der höchste im Atlas-Gebirge und überhaupt zwischen dem Mont Blanc und dem Kilimandscharo. Auf diesen beiden war ich schon. Und so schätzte ich den Jbel Toubkal mit seinen „nur“ 4.167 Metern über dem Meeresspiegel zwar als eine Herausforderung ein, aber doch als eine machbare.

Für die Besteigung benötigt man zwei Tage. Der erste verlief unproblematisch. Ein gut erkennbarer Wanderpfad führt durch eine Berglandschaft wie aus dem marokkanischen Bilderbuch. Am Nachmittag trafen wir in der Refuge du Toubkal am Fuß des Berges ein. Eine große Hütte ohne Charme, aber es gibt ein Bett und Decken, eine einfache Mahlzeit, dazu Tee und eine warme Stube.

mit Blick auf das Atlasgebirge: abgelegenes Dorf
mit Blick auf das Atlasgebirge: abgelegenes Dorf

Der nächste Tag begann um 4.30 Uhr. Wir merkten gleich: Heute wird anders. Draußen war es stockdunkel. Für den Weg brauchten wir eine Taschenlampe und Steigeisen, denn oberhalb der Hütte lag Schnee. Es fror. Wir zogen Handschuhe an und quälten uns durch den Tiefschnee. Höhenmeter für Höhenmeter. Gleich würde es hell werden. Dachten wir.

Es dauerte zwei Stunden, bis wir es bemerkten: Wir hatten einen Wetterumschlag. Winde kamen auf. Man konnte sie hören und an ihren Stimmen unterscheiden. Manche brummten, andere jammerten, fauchten oder pfiffen. Sie jagten die Wolken in alle Richtungen über den Himmel und zerfetzten sie. Sie machten aus dem Bergidyll von gestern eine unheimliche, halbdunkle Drohkulisse.

Doch was nun kam, traf uns unvorbereitet und warf uns buchstäblich um: Eine Orkanböe. Wie aus dem nichts fegt sie mit über 140 Stundenkilometern uns hinweg, tobt etwa 20 Sekunden lang über unseren Köpfen und verschwindet dann, wie sie gekommen ist. Wir sind wie benommen und wollen uns Mut machen. „Wir hocken uns hin, sobald wir es hören“, verabreden wir uns, nachdem wir uns mühsam wiederaufgerichtet hatten.

Der nächste Überfall kommt nach wenigen Minuten. Diesmal, ohne vorwarnendes Geheul. Und Hinhocken hilft nicht. Es reißt mich fast in die Tiefe hinab. Sich flach in den Schnee werfen und festkrallen, ist meine Rettung. Den Rest des Eishangs bewältigen wir eingeschüchtert und mit äußerster Vorsicht.

Auf dem Kamm trifft uns die Urgewalt dann mit voller Wucht. Für einen Moment zerreißt es die Wolken und der Blick zum Gipfel ist frei: es war mir, als tanzte dort oben ein Dschinn, ein entfesselter Dämon, Wolkenfetzen um sich her wirbelnd. Dschinns, so erzählen die Berber, sind böse Geister, aus Wind und Feuer geschaffen und nur in Ausnahmesituationen für Menschen sichtbar.

vom Schneesturm überrascht
vom Schneesturm überrascht

Das gespenstische Schauspiel bewog uns umzukehren. Ich fühlte mich meines Lebens nicht mehr sicher. Gegen 9 Uhr morgens waren wir zurück im Refuge, wo wir in einen Erschöpfungsschlaf verfielen. Der Abstieg erfolgte ohne Zwischenfälle. Mit jedem Höhenmeter weniger kehrte das vertraute, sanfte Marokko zurück: Die Esel und die Treiber, die Minze und der Rosmarin, die Palmen und die Wärme.

Meteorologen haben für die Orkanböen im Atlasgebirge andere Erklärungen als die Berber. Die Sahara beginnt nur 50 Kilometer südlich. Dort steigen die Temperaturen mittags auf über 40 Grad, während es oben noch friert. Diese Temperaturunterschiede sind Ursache für die extremen Winde.

Für mich aber bleibt der Toubkal ein sturmumtoster Berg im Zwielicht, auf dem ein heimtückischer Dschinn sein Unwesen treibt. Mit seinem irrsinnigen Toben hatte er uns von sich ferngehalten. Schade. Gern hätte ich zu Hause erzählt, dass ich auf dem höchsten Berg zwischen dem Mont Blanc und dem Kilimandscharo war.

Doch dafür habe eine Urerfahrung gemacht, die selten geworden ist in unserer wohlgeordneten Zivilisation: Wie gewaltig die Kräfte der Natur sind und wie winzig dagegen die Kraft eines Menschen ist. Schon das allein war die Reise nach Marokko wert.

Martin Bach, Januar 2021

Veröffentlicht am Donnerstag, 28. Januar 2021